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Schamanentum im Wandel der Zeit

Immer schon hat es Menschen gegeben, die aus dem Alltagsbewusstsein heraussteigen und klaren Geistes mit den nichtverkörperten Wesen der Anderswelt kommunizieren können. Das ist keine einfache Kunst, man braucht dazu Mut, geistiges Geschick und Durchhaltevermögen, denn manche dieser Wesen sind gefährlich. Schamanen waren aber für das Überleben des Stammes wichtig, denn oft konnten sie unheilvollen Entwicklungen schon auf der geistigen Ebene entgegenwirken, ehe diese sich in der alltäglichen Wirklichkeit manifestierten.

„Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich.“

Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra”

Warum ist der Schamanismus so populär geworden?

Inzwischen ist Schamanismus zum ausgelatschten alltäglichen Begriff geworden, und es gibt nicht wenige Zeitgenossen, die wähnen, Schamanen zu sein. Meistens ist es aber nur das bedürftige, sterbliche Ego, das sich Federn an den Hut stecken, trommeln, tanzen und als Heiler hervortreten will. 

Mit echtem Schamanentum hat das wenig zu tun, denn wer sein Ego mit in die andere Welt nimmt, wird erleben, wie Dämonen und andere Geister es zerfetzen. Warum ist der Schamanismus so populär geworden? Weil wir in einer säkularen, entzauberten, von der Ratio beherrschten Welt leben, wo doch die Transzendenz mit zu unserem Wesen gehört.

In der Mongolei ist das Schamanentum noch intakt.

Bei vielen Stammesvölkern in Sibirien und der Mongolei ist das Schamanentum noch intakt. Schamanen werden von den Ahnen oder den Göttern berufen. Als Teil ihrer Einweihung werden sie oft sterbenskrank.

Während sie siech und fiebernd darniederliegen, wandert ihre Seele in den tiefen Wald. Dämonen spüren den Umherwandernden auf, jagen ihn, bringen ihn zur Strecke und schlachten, zerstückeln und kochen oder rösten ihn, wie Jäger es mit dem Wild zu tun pflegen. Es ist ein Festschmaus für die grölende Dämonenhorde. Da sie seinen abgetrennten Kopf auf einen Spieß gesteckt haben, kann er der grausamen Szene seiner eigenen Opferung zuschauen.

Wenn alles vorbei ist und seine abgenagten Knochen unordentlich verstreut daliegen, kommt meistens ein (weißer) Vogel – die sogenannte »Vogelmutter« – herbeigeflogen. Sie sammelt die Knochen  auf, fliegt damit zu ihrem Nest, das sich auf einem der Äste im Weltenbaum, meist einer Birke, befindet, setzt sie sorgsam wieder zusammen und kleidet sie erneut mit Fleisch ein. Nun wächst der künftige Schamane als ihr Küken auf. 

Irgendwann wird er flügge, hebt ab und fliegt wieder in die alltägliche Menschenwelt zurück, wo er sich als initiierter Schamane – wenn er nicht beim Martyrium gestorben ist – von seinem Krankenlager erhebt. Nun hat er Flügel und kann jederzeit in die Geisterwelt fliegen.

Birke

Birkenholz wird meist benutzt für die großen Schamanentrommel.

Nach dieser Einweihung stellt er dann die Gegenstände zusammen, die er für sein Schamanisieren braucht: Den bunten Mantel, in dem seine Hilfsgeister wohnen, die Räucherwaren und die große Rundtrommel, deren Rahmen aus der Rinde des Weltenbaumes – meistens einer Birke – geschnitzt und deren
Schwingungsmembran aus Hirschleder gemacht ist. 

Wenn er die Trommel schlägt, ist er somit unmittelbar mit diesem Weltenbaum verbunden; jeder Trommelschlag stellt einen Schritt des Hirsches dar, der das Reittier des Schamanen ist und ihn tiefer in die Geisterwelt trägt. Wenn der Schamane stirbt, dann wird die Trommel oft an einen Baum im Wald gehängt und zurückgelassen. Sie wird nicht wiederverwendet, denn jeder Schamane hat
seine eigene, persönliche Trommel.

Wodan war ein Schamanengott

Schamanentum war Gemeingut bei den europäischen Waldvölkern. Wodan (skandinavisch: Odin, angelsächsisch: Woden), war ein Schamanengott, der über alle Grenzen gehen konnte, auch die Grenze zwischen der hiesigen Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Seine schmerzvolle Initiation bestand darin, dass er neun Tage, verwundet durch seinen eigenen Speer, in einer Esche hing, ohne zu essen oder zu trinken.

Dann löste sich die Seele vom Leib und fuhr in die Tiefen des Seins, wo er, gegen das Opfer eines seiner Augäpfel, die Runenweisheit empfangen konnte.

Auszug aus "Wir sind Geschöpfe des Waldes"

In dem Buch, Wir sind Geschöpfe des Waldes, gebe ich einen Einblick in die Tiefe des Waldes anhand von Geschichten, Mythen, Bildern und Symbolen.

Das Schamanentum wurde nach der Unterdrückung durch die Kirche insbesondere in der Zeit der  Hexenverfolgung im 16. und 17. Jahrhundert während der Inquisition verdrängt und vergessen. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts tat ein Übriges, indem sie Reisen in die Geisterwelten zwar nicht mehr als Hexentum verfolgte, sondern als Geisteskrankheit abtat. 

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dieses uralte, seit der Altsteinzeit bestehende Phänomen wiederentdeckt und als primitiver Animismus, Scharlatanerie oder gar als »sozial sanktionierte Schizophrenie«, »arktische Hysterie« oder Psychose verunglimpft. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts machte der Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1907–1986) den aus der tungusischen (ewenkischen) Sprache stammenden Begriff »Schamanismus« bekannt.

Ganz vergessen hat die urbane Zivilisation die Schamanen dennoch nicht. Sie tauchen in den Geschichten und Sagen, die wir den Kindern erzählen, als Zauberer oder Hexen auf, die tief im Wald leben. Oder als mutige Mädchen oder junge Burschen, die – wie in den Märchen von des Teufels drei goldenen Haaren oder dem russischen Märchen von der tapferen Wassilissa – in die Anderswelt gehen, dort Prüfungen bestehen und schließlich Glück und Segen empfangen.

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Diskussion

Kommentar

  1. Das Schamanentum, so spannend erzählt und einfach.
    Ich fühle mich da sehr hingezogen .
    Danke für alles.

    Mir fehlen die Wurzeln


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Vortrag

1. Juni 2024 um 19:00 Uhr